Die Kunst der langsamen Bühne

Christoph Marthalers Ästhetik und Politik

von Michael Opielka

Theaterexperten kennen Christoph Marthaler seit Jahren. Sie sehen in ihm einen der bedeutendsten europäischen Regisseure für das Schauspiel, im Herbst 2002 zeichnete ihn zudem eine Jury von fünfzig Opernkritikern als zweitbesten Opernregisseur des Jahres aus. Das allgemeine, zumindest Feuilleton-Publikum hörte von ihm gleichfalls im Herbst 2002: sein Vertrag als Direktor des Züricher Schauspielhauses wurde nach nur zwei (von fünf vereinbarten) Jahren unter unerfreulichen Umständen gekündigt, Demonstrationen und weitere bürgergesellschaftliche Aktivitäten waren die für viele überraschende Folge. Der Kündigungsgrund: zu wenige Zuschauer, zu wenig Einnahmen. So bemühte man sich um ein Arrangement. Ende Oktober 2002 war es unter Dach. Marthaler bleibt zumindest bis 2004 Direktor, erhält einen Controller zur Seite, soll besser wirtschaften und mehr Zuschauer locken. Trotz des Kompromisses lohnt sich eine genauere Untersuchung. Es scheint ein exemplarischer Fall des Zusammenhangs von Ästhetik und Politik vorzuliegen, exemplarisch freilich erst hinter der unmittelbarer Sichtbarkeit.

Marthaler-Ästhetik

Ein Vers aus den von Arnold Schönberg vertonten Gedichten des „Pierrot Lunnaire“ erinnert an Christoph Marthalers Theater, an: „den Wein, den man mit Augen trinkt“. Schönbergs Vertonung aus dem Jahr 1912 ist noch heute kühn, dadaistischer Sprechgesang, Kunst für Künstler. Für die Salzburger Festspiele 1996 inszenierte Marthaler Schönbergs „Pierrot Lunnaire“ zusammen mit Olivier Messiaens „Quatuor pour la fin du temps“. Für die „Ruhrtriennale 2002“, das Großfestival in den Industriedenkmälern des Ruhrgebiets unter der Leitung von Gerard Mortier, wurde beides noch einmal auf die Bühne gebracht: Ältere Männer bewegen sich, teils mikroskopisch tanzend, eine Frau verschließt den zerfallenden Raum, Graham F. Valentine als einer der fünf Pierrots singtschreit den Text aus einem zerschlissenen Sessel. Dann, zu Messiaens im deutschen Kriegsgefangenenlager entstandener Musik über den achten Tag, die Zeit der Ewigkeit, das Kammerorchester wechselte vom Graben auf die Bühne, reihen sich die fünf Schauspielertänzer vor einer Bahnhofswaage als einer Uhr, die keine Zeit zeigt, sie treten in einer unendlichen Reihe immer wieder nach hinten um dann einer um den anderen die Bühne zu verlassen und den vorigen Ort des Orchesters kauernd einzunehmen.

Musikalisches Theater sagt man Marthaler nach, zurecht. Die Grenze zum Tanztheater einer Pina Bausch betritt er aus dem Schauspiel her. Er arbeitet mit den Besten, einer Bühnenbildnerin wie Anna Viebrock, preisgezeichnet, die die Bühnensprache der letzten Jahre mit prägt, mit Tänzern, Schauspielern, Sängern, jede und jeder für sich ein kleiner Kosmos ihrer Art. Und dann, sein Großwerk des Jahres 2002: „Die schöne Müllerin“, Schuberts Liederzyklus für die Bühne eingerichtet, wie man das noch nie sah und so schwerlich wieder sehen wird, in Zürich natürlich, eingeladen zum Berliner Theatertreffen, auf der Ruhrtriennale, auch im Fernsehen (3sat). Schuberts Melancholie, seine die romantischen Wilhelm Müller Gedichte bereits kongenial erhöhende Musik, wird nicht einfach bebildert. Auch das, gut gemacht, kann erfreuen.[1] Bei Marthaler wird freilich nicht illustriert. Die Bilder sind selbst Wein, nicht Wasser. Sie sind skurriler Bühnenadel. Die Schauspielersänger (gesungen und klaviergespielt wird immer gut) wälzen sich unter Teppichen, schlängeln sich alle in ein Bett, ziehen sich an und aus, tun ohne jede Langeweile nichts und dann wieder etwas, das ein Bild trifft. In einer schon zu Lebzeiten lesenswerten Bildmonographie über seine epochale Theaterarbeit wird er zum Nachkommen des „Cabaret Voltaire“, zum modernen Dadaisten gedeutet und zitiert: „Es ist spannend, wie in der Schweiz der Dadaismus geboren wurde. Der Dadaismus konnte in der Schweiz nur nicht überleben. Als Brutkasten von außergewöhnlichen Erscheinungen und Skurrilitäten ist die Schweiz gut. Ich sehe es bei mir selbst.“[2]

Marthaler-Politik

Natürlich muss man sich an diese Bilder gewöhnen. Dass das Jahr 2002 zu einem Marthaler-Jahr wurde, hat mit dieser Gewöhnungsbedürftigkeit zu tun. Noch im Juni dieses Jahres hat eine Volksabstimmung in Zürich-Stadt dem Züricher Theater, dessen Schauspielabteilung Christoph Marthaler seit dem Jahr 2000 leitet, nach heftiger Debatte nötige Nachfinanzierungen bewilligt, die vor allem aufgrund der längst vor seiner Zeit veranlassten Neubauten (Schiffbau) nötig wurden. Wenige Wochen später einigte sich der Verwaltungsrat des Theaters, gestandene Geschäfts- keine Kulturleute, in einer Telefonkonferenz ohne Beratung mit ihm, dem Intendanten, auf dessen Kündigung. Ein ungewöhnlicher, nicht nur stilarmer Vorgang, begründet mit einem Sinken der Zuschauerresonanz auf das Zahlenniveau eines besseren deutschen Stadttheaters (120.000 statt vordem 170.000 Zuschauer per anno, zudem nur gut 100.000 Normalzahler[3]).

Darauf erhob sich die Züricher Intelligenz und politisierte eine Ästhetik, deren politische Dimension leicht übersehen werden kann. Demonstrationen, Sit-ins, eine Bürgerinitiative, Spendenappelle („Mar-Thaler“), eine eigene Homepage (www.marthaler-bleibt.ch), Resolutionen aller relevanten Theaterintendanten.[4] So weit sich das von außen beurteilen lässt, sind die ökonomischen Konflikte solche auf hohem Niveau: während Christoph Marthaler und seine Stellvertreterin und Dramaturgin Stefanie Carp von einer „verarmten Aktiengesellschaft“[5] sprechen - das Theater Zürich hat die Rechtsform einer AG -, wären viele durchaus niveauvolle Theater in anderen Städten erfreut, könnten sie über den Etat des Züricher Schauspiels verfügen (43 Mio. Franken im Jahr 2002, davon 33 Mio. Subventionen[6]). Aber das ist auch die Schweiz: alles ist teuer. Die Wirtschafts- und Kulturelite einer Stadt, die so viel Geld für das Theater ausgibt, will sich darin wiederfinden.

Der Chef der städtischen Kulturpflege Zürichs wollte Ende 2001, in einem Gespräch mit Marthaler, „ein Theater, das weit über die Stadtgrenzen hinaus strahlt. Das internationale Renommee soll ein Gegengewicht zum Finanzplatz bilden, damit Zürich stärker auch als Kulturstadt wahrgenommen wird. (...) Gleichzeitig muss das Schauspielhaus in der Bevölkerung verwurzelt sein.“[7] Einerseits also soll Theater der städtischen Imagepflege dienen, Schein verbreiten, andererseits soll es wirklich sein, geliebt und besucht werden. Diese Spannung beschreibt ein allgemeines kulturpolitisches Problem, nicht nur in Zürich und nicht erst heute. Zweierlei steht gleichwohl erst in den letzten Jahrzehnten als konflikthaft an: zum einen die Politisierung des Theaters, zum anderen die Ästhetisierung der Regie. Politisierung meint, die Wirklichkeit der Politik unmittelbar in das Spiel des Theaters zu verlängern. Ästhetisierung der Regie meint (im modernen „Regietheater“), der Regisseur sei der eigentliche Autor. Beides wird in der Regel wieder zum kulturpolitischen Problem, weil die Zuschauer sich ungern politisch belehren lassen und die meisten Regisseure schlichtweg mindere Künstler sind als die Klassiker, deren Texte sie gern versubjektivieren.

Marthaler ist zu sehr Künstler, um zu politisieren und zu ästhetisieren. Die politische Dimension  seines Theaters erschließt sich nicht sofort. Marthalers Theater ist subversiv, weil es zum Hinsehen nötigt, weil es die Schwäche nicht verklärt, sondern ihre Stärke zeigt, weil es Armeen als Tötungsprojekt zum Problem macht[8], weil es die Langsamkeit ehrt ohne der Langsamkeit zu verfallen. Wenn das Züricher Theater nun (2002/3) „Die neue Armut“ zum „Projekt der ganzen Spielzeit“ macht, wird man gespannt sein dürfen: nicht auf politische Rezepte, doch auf den künstlerischen Blick auf die Verlierer der Sozialpolitik.

Politik, Religion, Ästhetik

Marthalers politische Ästhetik ist nicht weniger diskret als seine christliche Motivik: „Das seltsame ist, das ich protestantisch erzogen worden bin. Der Katholizismus ist aber für das Theater interessanter (...) Diese Bilder kommen immer wieder. Aber nicht so wie in den italienischen oder spanischen Filmen, in denen die Religion eine so große Rolle spielt. Wie bei Pasolinie oder Buņuel. Einen solchen Background hätte ich manchmal gern.“[9] Vielleicht ist es die Liebe zum Leben, das seine Grenzen in alle Richtungen hin immer neu zu überschreiten sucht, die Marthalers Bühnensprache religiös und politisch zugleich werden lässt, langsam freilich, so dass auch der zögerliche Ästhet selbst auf Bedeutung kommen kann. Das macht seine Kunst zur Kunst: dass sie anbietet, plausibel anbietet, aus einem Material heraus, dessen Wahl die erste Entscheidung jedes Künstlers ist.

Wählt Marthaler Musik als Material, die ihm als Musiker besonders nahe liegt, so bewegt er sich, wie alle Musiker, bereits in einer geistigen Sphäre, die das Soziale, also auch das Politische, zunächst transzendiert. Musik ist menschlich, nicht politisch, selbst das Heroische und der Marsch sind ewige Möglichkeiten. Politisch wird Musik durch das Wort, das ihrem seelisch-geistigen Raum eine neue, weitere Sinn-Richtung gibt, und durch das Bild, das uns politisch erinnert, die rote Fahne, der Soldatenstiefel, die Trostlosigkeit des Immerwiederkehrendenleeren. Hier kann Theater seine Stärke zur Geltung bringen. Wenn Marthaler in „Murks den Europäer! Murx ihn! Murx ihn! Murx ihn! Murx ihn ab!“ (Volksbühne Berlin, 1993) die Erfahrung in einer Pankower Kneipe verarbeitet, in der ihm, mit Locken, Anzug, langem Mantel und Hut der Wunsch nach einem Bier mit den Worten „An Juden gibt's kein Bier“ abschlägig beschieden wurde, und er am nächsten Tag wiederkommt und sein Bier bekommt, nötigt das dem Theatermacher Frank Castorf Bewunderung ab: „Ich glaube, dieses Kennenlernen-Wollen des anderen, damit umzugehen, wissend, dass man anders ist, und trotzdem seinen Weg nicht zu unterbrechen, ist etwas ganz Wichtiges.“[10] Hier schauen wir über die Mauer, begegnen sich Politik, Kunst und Religion, langsam, interessiert am morgen, nicht nur am heutigen. Das Religiöse ist im morgigen heute nicht nur das der eindeutigen Bilder, sowenig wie das Politische. Viel mehr kommt es darauf an, dass der Zuschauer, wir, diese Bilder innerlich selbst erzeugen kann und dafür Material erhellt, gutes Material, schönes auch, natürlich, selbst wenn es am Anfang verwirrt.


[1] So zum Beispiel, wenn, gleichfalls auf der „Ruhrtriennale 2002“, der Filmregisseur Oliver Herrmann Schuberts „Winterreise“ in einen Boxring stellt, in einer alten Fabrikhalle, den Ring umschließt mit meterhohem Leinen, auf das Wolkenanimationen und menschliche, sich unbeobachtet wähnende Gesichter projiziert werden. Man sieht Inneres außen. Doch zum Glück hört man stupend Musikalisches: Christine Schäfer als Sängerin, Irwin Gage als Begleiter, beide Weltniveau, so dass man fragt, ob eine weiße Bühne nicht genügte, ob die Inszenierung der Musik etwas wirklich Neues hinzufügt.
[2] Klaus Dermutz, Christoph Marthaler. Die einsamen Menschen sind die besonderen Menschen, 2. Aufl., Salzburg/Wien: Residenz 2001, S. 34
[3] Das entspricht, lt. der Theaterstatistik 1999/2000 des Deutschen Bühnenvereins, etwa den Besucherzahlen der Stadttheater Bautzen oder Cottbus.
[4] Unter dem Titel „Aufstand in Zürich“ dokumentiert das Magazin „Theater heute“ im Heft Oktober 2002 die Vorgänge.
[5] Auf der Homepage des Schauspiels Zürich zur Begrüßung des Publikums in der Saison 2002/3.
[6] Vgl. NZZ v. 8.9.2002, wo auch manch andere betriebswirtschaftliche Problematik der Direktion Marthalers skizziert wird.
[7] Jean-Pierre Hoby in der NZZ v. 13.12.2001.
[8] Schon 1989 am Theater Basel mit „Wenn das Alpenhirn sich rötet, tötet, freie Schweizer, tötet ... Soldaten, Serviertöchter und ihre Lieder“
[9] in: Dermutz (Fn. 1), S. 52
[10] Frank Castorf, Er ist ein wirklich letzter großer Autonomer. Rede zur Verleihung des Konrad-Wolf-Preises der Akademie der Künste, in: Dermutz (Fn. 1), S. 194f.

erschienen leicht gekürzt in: Das Goetheanum. Wochenschrift für Anthroposophie, 44, 2002, S. 820-821; erscheint in: Kommune, 20. Jg., 12, 2002