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Jean-Christophe Ammann

Thesen zur Zukunft des Museums

aufgestellt von Jean-Christophe Ammann in der Süddeutschen Zeitung vom 19.03.2001

  1. Das Museum ist und bleibt ein kollektives Gedächtnis und die Werke Teil der kollektiven Biografie.
  2. Keine andere Kultur hat eine derart extreme Vielfalt von Bildern hervorgebracht, wie die christliche. Und dies seit 1400 Jahren. Der evolutionäre Charakter in der stilistischen Abfolge von Bildern hat genuin mit dem schöpferischen Auftrag des Menschen aus alttestamentarischer Sicht zu tun: Ein Schöpfergott hat den Menschen nach seinem Ebenbild geschaffen und somit die originäre schöpferische Komponente dem Menschen in die Wiege gelegt.
  3. Entsprechend stellt sich für uns unentwegt die Fragen nach der Kreativität des Menschen, nach der Sinnhaftigkeit des schöpferischen Tuns und ergo nach Sinn, Zweck und Bedeutung des Museums.
  4. Diese Frage verunsichert all jene, die das Museum als einen Friedhof und die Werke als Grabsteine sehen.
  5. Diese Frage verunsichert all jene, die nicht erkennen, dass Werke Wesen sind, welcher Zeit auch immer sie angehören: Werke sind Energieträger und sie strahlen Energie aus. Werke wollen untereinander kommunizieren und sie wollen wahrgenommen werden.
  6. Man stelle sich ein Museum oder einen Raum im Museum wie ein gesetztes Essen vor. Die Dame des Hauses hat sehr genau geschaut, wer neben wem sitzt. Insofern stelle ich mir den Museumsdirektor als Kuppler vor, der auf Zeit den Werken ein längst ersehntes Stelldichein vermittelt.
  7. Natürlich sind große, weitläufige Museen, die viele Jahrhunderte an Kunstschätzen vereinen, auf sinnstiftende Abläufe angewiesen. Aber umgekehrt können diese sinnstiftenden Abläufe wie Ehen angesehen werden, in denen nach Jahrzehnten der Mann seine Frau "Mutti" und die Frau ihren Mann "Vati" nennt.
  8. Ich habe einmal vorgeschlagen, den starren, horizontalen, toten Christus von Hans Holbein im Kunstmuseum Basel mit einer vertikalen Figur von Alberto Giacometti zu konfrontieren. Ich war der Meinung, das der tote Christus, mit dem leicht zum Betrachter geneigten Antlitz, vor Erstaunen zu blinzeln beginnen würde. Mein Vorschlag stieß nicht auf Sympathie.
  9. Jedes Kunstwerk, wenn es eines ist, war zu jeder Zeit erklärungsbedürftig. Heute können wir uns den Luxus leisten, Kunstwerke, welcher Zeit auch immer sie angehören, in einen offenen Dialog treten zu lassen. Dies mit der Vorstellung verbunden, dass sich die Werke, neugierig wie sie sind, gegenseitig über die Konstitution ihres Bildseins aufklären.
  10. Kunstwerke verhalten sich zur Reportagefotografie wie das Bild zum Dokument. Anders ausgedrückt: Das Bild enthält stets das Dokument, das Dokument jedoch nie und nimmer das Bild.
  11. Es hat in den neunziger Jahren verschiedene Dialogansätze gegeben. Ich halte nicht viel davon, weil es zumeist "Schnellschüsse" waren. Kurzfristig wurde in Form von Ausstellungen der museumseigene Bestand auf- und durchgemischt. In Wirklichkeit handelt es sich um eine äußerst kontemplative Arbeit, die ein Einfühlungsvermögen besonderer Art verlangt; vor allem aber einen weiten Horizont erfordert, der Nähe und Ferne, Neugier, Staunen und vor allem Freude am "Verkuppeln" vereint.
  12. Die klassischen Museen haben, soweit ich erkennen kann, einen gewaltigen Zulauf. Schwerer haben es jene Museen, die sich vor allem mit Gegenwartskunst beschäftigen. Jedoch bin ich der Meinung, dass auch hier immer wieder Dialogsituationen erprobt werden müssen, auch unter Einbeziehung von zeitfernen Werken. Und natürlich stellt sich die entscheidende Frage: Wie und was sammle ich?
  13. Letzte Frage: Weshalb haben Ganzheitsmediziner einen derartig durchschlagenden Erfolg? Antwort: Weil sie den Körper, im Unterschied zu all den Spezialisten, deren Notwendigkeit unbestreitbar ist, als Ganzes ins Auge fassen. Sie erkennen die Teile in Bezug auf das Ganze, wohlwissend, dass die Erkenntnis der Teile nicht der Summe entspricht und entsprechend leiten sie ihre Patienten auch an die Spezialisten weiter. Mir scheint, dass der Museumsdirektor wieder zum "Ganzheitsmediziner" werden muss. Das entspricht auch seiner Führungsaufgabe. Er muss sein Team von Spezialisten auf eine Vermittlungsaufgabe einschwören, die letztlich darin besteht, den Dialog zwischen den Generationen als ein freudiges Erlebnis dem Betrachter weiterzugeben: Freuen sich die Werke, freut sich auch der Betrachter.
  14. Museen sind Dienstleister! Die Werke bitten inständig, wahrgenommen zu werden. Und wir Museumsleute müssen alles dafür tun, dem Wunsch der Werke zu entsprechen. Wir müssen mit den Werken, über ihre jeweilige Gegenwart, zu den Besuchern sprechen.
  15. Wir müssen mit den Werken dem Besucher klarmachen, dass man sich über Kunst nicht informieren kann. Außer man betrachtet Kunst als einen Informationsträger von so genannten "neuen Ideen". Aber jeder weiß, dass die "neuen Ideen", häufig trendbestimmt, rasch der Vergangenheit angehören. Kunst verlangt vom Betrachter einen Moment des Innehaltens. Eine Bereitschaft des Hineinhorchens in sich selbst. Das Kunstwerk ist und bleibt ein anschaulicher Denkgegenstand und beginnt bekanntlich dort, wo der Geschmack aufhört. Die Aufgabe des Museums ist es, die Voraussetzungen stets von neuem zu bedenken und entsprechend zu handeln.
  16. Und natürlich muss man sich zuallerletzt noch fragen, ob die heutige Museumsarchitektur geeignet ist, der Kontemplation Vorschub zu leisten. Nehmen wir als Beispiel den Altbau des Kunsthauses Zürich mit seinen wunderbaren, in den Proportionen stimmigen Räumen. 1974 erhielt das Kunsthaus Zürich einen Anbau, der aus einem, in offene Kompartimente gegliederten, Großraum besteht. Fortan waren die Werke "heimatlos", zur Schau gestellt, wie in einem Warenhaus.

(Jean-Christophe Ammann)

URL: http://www.k-faktor.com/frankfurt/thesen.htm | Letzte Änderung: 18.03.2005

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