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Der Gewinn

... oder warum Butterfahrten out sind

Sind Sie ein Gewinner? Ich schon - und zwar seit Sonntag. Und das kam so:

"Hallo Jürgen, hast Du einen Moment Zeit? - Mir ist da etwas Seltsames passiert." Annette, meine Bekannte, ist am Telefon richtig aufgekratzt. Eine Agentur hat ihr soeben mitgeteilt, sie habe einen Hotelgutschein im Wert von ca. 1.500 EUR gewonnen. Annette kann sich nicht erinnern, an einer Verlosung teilgenommen zu haben. "Nein, ein Computer hat per Zufallsgenerator Ihren Namen ausgewählt und wir möchten Sie jetzt einladen, den Gutschein in Empfang zu nehmen." Annette ist überrascht: "Einfach so?" Nein, nicht ganz - sie müsse sich als "Gegenleistung" nur einen Film über das Urlaubsziel Griechenland ansehen. "Ein faires Angebot." - findet Annette. Umso schöner, daß ihr Bruder - aufgrund des identischen Familiennamens - vom Computer ebenfalls zu einem Gewinner gekürt wurde. Ein kostenloser Urlaub mit Freunden und Bekannten in Griechenland erscheint in greifbarer Nähe.

Zu dumm nur, daß Annette den Gutschein nicht persönlich in Empfang nehmen kann. Zu den angebotenen Terminen (Freitag, Samstag und Sonntag Nachmittag - es gibt offensichtlich aufgrund der großen Anzahl an glücklichen Gewinnern eine terminlich gut durchorganisierte Übergabe der Gutscheine) ist sie nämlich in Köln. Und Christoph, ihr Bruder, fährt am Samstag zum Schilaufen in die Schweiz.
Wie gut, daß sie einen Stellvertreter (genauer gesagt: ein Stellvertreter-Paar) benennen darf. Offensichtlich ist der Computer einerseits sehr flexibel, andererseits aber auch ein wenig schusselig, denn schließlich ist Annette ja gar nicht verheiratet, also nur ein halbes Paar, sozusagen - und halbe Gutscheine sind nicht vorgesehen.
Aber wozu gibt es gute Freunde? Und zwar solche, die sowohl am Sonntag Zeit als auch jede Menge Neugierde besitzen und darüber hinaus auch in der Lage sind, die zweite Hälfte eines Paares zu organisieren.

Regine ist schnell überzeugt, meine Ehefrau zu spielen (schließlich lockt ja ein gemeinsamer kostenloser Griechenlandurlaub) und so stehen wir am Sonntag bereits zwanzig Minuten vor der vereinbarten Zeit am Hochhaus Nibelungenplatz 3 (selbiges, in welchem auch der nette Rechtsanwalt aus der Fernsehserie "Ein Fall für Zwei" seine Kanzlei betreibt). Meine Kleidung ist mit Bedacht gewählt, weder extravagant noch nachlässig - einfach so, wie sich der Computer den ermittelten Durchschnittsgewinner sicherlich vorgestellt hat. Das Schild mit dem Namen der Reiseagentur ist dezent und unauffällig an der Tafel vor dem Haus angebracht - es erinnert eher an eine Anwaltskanzlei als an ein Reisebüro.

Ich bin gut vorbereitet, habe genügend Notizzettel und Stifte bei mir, um die kommenden zwei Stunden zu protokollieren. "Verflixt!" - warum muß ich bei der Fahrt mit dem Aufzug in den 13. Stock nur immer wieder an eine Butterfahrt denken? Egal - der Ausblick aus dem gläsernen Aufzug, den der freundliche Pförtner mit seiner Ausweiskarte bedient ("Wie kommen wir hier nachher nur wieder raus?", regen sich leise Zweifel), eben dieser Ausblick versetzt bereits in Urlaubsstimmung.

Die Ankunft in den Geschäftsräumen ist ernüchternd. Keine strahlenden Gewinnergesichter, kein Sekt, keine Small-Talk Kulisse - nein, ich fühle mich in den Beratungsbereich einer Bank versetzt. Lediglich die bunten Griechenland-Poster an den Wänden erinnern mich daran, daß es ja um einen Griechenlandurlaub geht, kostenlos. Regine und ich werden von zwei Mitarbeitern in Empfang genommen und an einen kleinen runden Tisch geleitet. Der Mann, Anfang 30, sieht sehr griechisch aus. Gekleidet in ein dunkelblaues Sakko mit hellblauem Hemd und perfekt dazu passender Krawatte, die Haare leicht glänzend und nach hinten gekämmt, wirkt er sehr, sehr smart. Seine Kollegin, ebenfalls Anfang 30, stellt mit ihrem Business-Kostüm, den mäßig blondierten Haaren sowie den eleganten Stöckelschuhen eine ideale Ergänzung dar. Beide sprechen offensichtlich nur Englisch. Ich bin irritiert - wie konnte der Computer wissen, daß ich Englisch verstehe?

Außer Regine und mir befinden sich in dem großen Raum noch vier weitere Gruppen. Eine bunte Mischung zwischen Finanzbeamtem-Ehepaar, Anfang 50, und linksliberalem Junglehrer-Ehepaar um die 30. An den anderen Tischen wird offensichtlich bereits diskutiert oder besser gesagt: informiert. Die Informierenden passen perfekt zum Raum - sie sehen aus wie Bankberater.
Nach wenigen Minuten gesellt sich eine junge Dame an unseren Tisch. Sie trägt Fragebögen und Informationsmaterial in den Händen. Höflich erkundigt sie sich, ob wir vielleicht etwas trinken möchten. "Gerne", sage ich, "vielleicht ein Mineralwasser?" Regine schließt sich an und die junge Dame verschwindet in einem der hinteren Räume. Das Paar, das uns in Empfang genommen hat, läßt sich mehrere Male kurz im Raum blicken, um nach dem Rechten zu sehen. Ich fühle mich wie bei einer Klausur, während die wachsamen Blicke des Lehrers durch den Raum schweifen, um jedwelche Art von Unterschleif zu entdecken und unmittelbar zu ahnden.
Wir bekommen unser Mineralwasser, das sich nach dem ersten Schluck als gutes Frankfurter Leitungswasser zu erkennen gibt. Unsere "Ja-was-denn-eigentlich?" ist Anfang 30, blond, sympathisch und schwarz gekleidet. Sie spricht Deutsch - mit leichtem Akzent. Säße sie mir beim "Heiteren Beruferaten" gegenüber, würde ich höchstwahrscheinlich auf Mitarbeiterin einer Werbeagentur oder Regieassistentin tippen, aber ich bin schließlich hier, um mir einen Film über Griechenland anzusehen und den gewonnenen Reisegutschein in Empfang zu nehmen.

Die sympathische junge Dame befragt uns zu unseren Urlaubsgewohnheiten: "Welches sind Ihre bevorzugten Reiseziele? Reisen Sie eher allein, zu zweit oder mit Freunden?" Ich erwähne, daß ich bevorzugt Individualreisen unternehme und meinen letzten längeren Urlaub im Iran verbracht habe. Ihre Augen leuchten. Wir unterhalten uns plötzlich über den Iran anstatt den Fragebogen auszufüllen. Es stellt sich heraus, daß unsere "Ja-was-denn-eigentlich?" offensichtlich eng mit einem Perser befreundet war. Ich bilde mir ein, einen leichten feuchten Schimmer in ihren Augen wahrzunehmen.
Nachdem wir uns zwanzig Minuten über den Iran und die Menschen dort unterhalten haben, frage ich nach dem Informationsfilm. "Er ist leider noch nicht fertig, wir werden Sie in einem Gespräch informieren. Ich hoffe, Sie haben Verständnis." Habe ich, denn unsere "Ja-was-denn-eigentlich?" kommt aus Finnland, hat in Frankfurt Soziologie studiert und ist sehr nett. "Worüber möchten Sie uns denn informieren?" frage ich. "Über unsere Time-Sharing Objekte in Griechenland. Hat man Ihnen das am Telefon nicht gesagt?" erwidert sie zweifelnd. Ich verneine. Sie entschuldigt sich höflich und beginnt, Regine und mich über die Vorzüge des Time-Sharing an sich und insbesondere der angebotenen Objekte zu informieren. Schnell erkennt sie, daß bei uns kein Interesse besteht. Sie ist sehr höflich und weist wiederholt darauf hin, daß wir keinerlei Verpflichtungen eingehen müßten und sie uns zu nichts drängen würde. Langsam ahne ich, daß auch sie selbst höchstwahrscheinlich kein Time-Sharing Objekt für die nächsten 50 Jahre erwerben würde. Aber die Berufsaussichten für Soziologen sind schließlich nicht besonders rosig.

Reklame ist die Kunst,
auf den Kopf zu zielen
und die Brieftasche zu treffen.

Vance Packard, am. Verkaufspsychologe

Ein zweites Paar wird an unserem Tisch plaziert. Unsere Finnin bittet wortreich um Entschuldigung, aber aufgrund eines Personalengpasses ginge es leider nicht anders. Für Regine und mich ist das kein Problem. Im Gegenteil - die Aufmerksamkeit unserer Beraterin widmet sich jetzt vermehrt dem neuen Paar. Leider hat sie aber wiederum kein Glück. "Eigentlich sind wir nur hergekommen, um unseren Gutschein abzuholen. Am Telefon war nie die Rede von Timesharing. Sonst wären wir mit Sicherheit nicht gekommen." Ich bin mir da nicht so sicher - schließlich nehme ja auch ich dieses Opfer auf mich, um den Gutschein zu erhalten, was sonst hätte mich wohl zum Kommen bewogen? Unsere nette Finnin ist etwas irritiert und verunsichert. Die Neuankömmlinge sind aber ebenfalls wohlerzogen und lassen sie ausreden und ihre Informationen abspulen. Als das Thema auf die Nebenkosten kommt, entwickelt sich eine kurze Diskussion. Mein Rechenexempel, das angebotene Objekt bringe bei voller Vermittlung ca. 975.000 EUR nur für Neben- und Verwaltungskosten, überrascht die Beraterin sichtlich. Ich beginne, Mitleid mit ihr zu haben.

Unsere Finnin bietet an, die Präsentation zu beenden und die Gutscheine ausstellen zu lassen. Wir atmen auf. Die Beraterin verschwindet nach hinten. Aber anstatt - wie erhofft - mit den Gutscheinen wieder aufzutauchen, erscheint die kostümierte Stöckelschuh-Trägerin und besteht auf einer Fortführung des Gespräches. Unsere Finnin lächelt tapfer. Nach einer weiteren halben Stunde haben wir uns alle fünf gemeinsam durch die Geheimnisse des Time-Sharing Dschungels gekämpft. Verstanden habe ich wenig, und schon gar nicht, welche Vorteile das Time-Sharing ausgerechnet für mich haben sollte. Zweifelnde Blicke auch auf den Gesichtern unserer Tischnachbarn. Ich frage, ob wir Informationsmaterial mitnehmen dürften. "Leider nein, nur wenn Sie Mitglied im Tauschclub geworden sind, erhalten Sie diese Informationsbroschüre." Es tut unserer Finnin sichtlich leid, schon wieder einen Wunsch abschlägig bescheiden zu müssen. Sie bietet an, uns einen Kaffee zu bringen. Wir nehmen dankbar an. Der Kaffee ist jedoch leider ausgegangen.

Bisher haben wir nur über Nebenkosten sowie Kosten für die Mitgliedschaft im Tauschclub gesprochen, aber noch gar nicht über die Kosten für das Time-Sharing an sich. Jetzt kommt die Stunde des smarten Geschäftsführers. Sie, unsere Finnin, dürfe leider nicht über die Preise referieren, sie sei ja noch Anfängerin, entschuldigt sie sich.
Der Chef referiert. In Englisch. Das habe ich erwartet. Er scheint sehr fit zu sein, denn er redet und schreibt schneller Zahlen auf das Papier, als ich denken kann. Das Blatt füllt sich immer mehr und schneller mit Zahlen, Linien, Kreisen. Alles ist sehr dynamisch - das Wirbeln in meinem Kopf ebenfalls. Bei unserer Tischnachbarin flackert kurzfristig Neugierde auf, als die Sprache auf superbillige Bonuswochen kommt. Keiner von uns versteht aber, wie Time-Sharing und Bonuswochen denn genau zusammenhängen. Das Schnäppchen-Jagdfieber erlischt. Wir sind erschöpft.

Wie zahlreich sind doch die Dinge,
deren ich nicht bedarf.

Sokrates

Plötzlich hält der Geschäftsführer inne - wir sehen offensichtlich gleichermaßen ratlos wie renitent aus. Sein geschulter Blick erkennt, daß wir einfach nicht flexibel genug sind, die Vorzüge seines Angebotes zu erkennen. Er resigniert. Schließlich hat er die Aufgabe, in zwei Jahren 2.600 Time-Sharing Wochen zu vermitteln. Das hat uns unsere nette Finnin erklärt. Da kann er sich schließlich nicht mit jedem Querulanten einzeln abgeben. Er verschwindet nach hinten und kommt mit zwei Flyern und zwei Kuverts zurück. Unsere Hotelgutscheine? Leichte Gier flackert auf. Wir werden von ihm aus dem Büroraum, der sich in der Zwischenzeit deutlich geleert hat, hinauskomplimentiert. Der Geschäftsführer hält die Gutscheine (oder sind es wohlmöglich nur Prospekte?) noch immer in der Hand. Der Aufzug öffnet die Türen. Wir erhalten unseren "Lohn" und fahren abwärts. Ich überfliege das Kleingedruckte auf dem "Gutschein" und fühle mich plötzlich gut. Alle meine Vorurteile haben sich bestätigt. Ich muß keinen kostenlosen Urlaub in Griechenland verbringen, sondern darf - wie erhofft - eine Glosse über diesen Nachmittag schreiben. Ich habe gewonnen! Erfahrung und die Gewißheit, daß Butterfahrten absolut out sind. Wer sich kurzweilig unterhalten möchte und Sinn für Realsatire hat, ist in einer Time-Sharing Veranstaltung bestens aufgehoben. Und wo schließlich gibt es heute noch zwei Stunden Unterhaltung zum Nulltarif? Nur die nette Finnin tut mir etwas leid.

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URL: http://www.k-faktor.com/unsinn/gewinn.htm | Letzte Änderung: 09.10.2006

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