Wie keine andere Substanz symbolisiert Thalidomid den Januskopf der Medikamententherapie: Was bei Schwangeren zu schwersten Missbildungen des Fötus führt, kann bei Krebsleiden sowie Autoimmun- und Entzündungskrankheiten hilfreich sein.
ni. Nach einem vorangegangenen Telefongespräch mit dem Forschungsleiter von Chemie Grünenthal schrieb der Hamburger Kinderarzt und Genetiker Widukind Lenz am 15. November 1961 einen brisanten Brief an die Firmenleitung in Stolberg bei Aachen1: «Seit etwa 1957 . . . ist in der Bundesrepublik ein bestimmter Typ von Missbildungen in zunehmender Häufigkeit aufgetreten. Es handelt sich in erster Linie um schwere Defekte der Gliedmassen, insbesondere der Arme, welche gewöhnlich nur als Stummel mit zwei bis vier Fingern angelegt sind, aber auch ganz fehlen können. Mit diesen Armmissbildungen sind z. T. schwere Defekte der Beine, ferner Fehlen der Ohrmuschel, Verschluss der Gehörgänge, Herzfehler sowie Unwegsamkeiten der Speiseröhre oder des Zwölffingerdarms kombiniert.» Und dann schrieb Lenz, dass «eine sehr intensive Fahndung nach allen möglichen Faktoren» nur eine Ursache der Missbildungen zulasse: das Medikament Contergan, das von den betroffenen Müttern in den ersten Monaten der Schwangerschaft eingenommen worden war.
Zur selben Zeit und unabhängig von Lenz hatte auch der australische Frauenarzt William McBride Thalidomid, den Wirkstoff von Contergan, als Grund für die grösste Katastrophe in der Geschichte der Medikamententherapie erkannt - eine Tragödie, die Beate Kirk in ihrer lesenswerten Dissertation von 1998 als vermeidbar oder zumindest früher erkennbar einstuft.2 Bis 1963 wurden weltweit rund 10.000 geschädigte Säuglinge geboren, die Hälfte davon in Deutschland. In der Schweiz, wo Thalidomid unter dem Markennamen Softenon vertrieben wurde, zählte man offiziell neun «Contergan-Kinder». Unter massivem öffentlichem Druck zog Grünenthal schliesslich im November 1961 Thalidomid vom Markt.
Die 1956 eingeführte Substanz hatte zuvor in Europa und Kanada grosse Popularität erreicht. Thalidomid galt als potentes und laut Firmenwerbung «völlig ungiftiges» Schlaf- und Beruhigungsmittel. Auch gegen morgendliches Erbrechen während der Schwangerschaft wurde es angepriesen, obwohl keine adäquaten Versuche an trächtigen Tieren durchgeführt worden waren, die eine teratogene (Missbildungen verursachende) Wirkung ausgeschlossen haben. In den USA indes wurde das stark beworbene «Wundermittel» von der Food and Drug Administration (FDA) zurückgewiesen. Der verantwortlichen Beamtin genügte die vorgelegte Dokumentation nicht; später wurde zudem bekannt, dass das rezeptfrei erhältliche Medikament bei längerem Gebrauch zu Nervenschädigungen führen kann.
Auch wenn der Strafprozess gegen Grünenthal nach 283 Verhandlungstagen im Dezember 1970 «wegen Geringfügigkeit» eingestellt wurde - die Firma hatte sich in einem Vergleich verpflichtet, den Contergan-Opfern 100 Millionen Mark zu bezahlen -, hätte es damals wohl niemand für möglich gehalten, dass Thalidomid in der Medizin eine zweite Chance bekommen würde. Doch genau das ist geschehen. 1964 entdeckte ein israelischer Arzt, dass Thalidomid gegen eine schmerzhafte Hautentzündung, die bei Lepra-Patienten auftritt (Erythema nodosum leprosum, ENL), wirksam ist. Für diese Indikation wurde das ehemalige Contergan von der FDA 1997 wieder als Arzneimittel zugelassen. Doch nur unter strengsten Auflagen. So müssen sich Frauen im gebärfähigen Alter verpflichten, zwei Verhütungsmethoden gleichzeitig anzuwenden. Auch Männer unter Thalidomid werden angehalten, ein Kondom zu benützen, da zumindest bei Hasen nachgewiesen ist, dass das Medikament mit der Spermienflüssigkeit in den weiblichen Kreislauf gelangen kann. Die Verschreibung von Thalidomid ist zudem an ein obligatorisches Aufklärungs- und Überwachungsprogramm gebunden.
Alle diese Vorkehrungen überzeugen aber Vijaykumar Pannikar von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) nicht restlos. Als ärztlicher Leiter der Gruppe zur Elimination der Lepra ist er froh, dass sich die WHO Anfang dieses Jahres entschieden hat, Thalidomid künftig nicht mehr gegen ENL zu empfehlen und auch nicht mehr weltweit zu verteilen. Für diese Änderung der WHO-Politik gebe es zwei Gründe, erklärt Pannikar. Einerseits stünden mit Prednisolon und Clofazimin zwei wirksamere Medikamente zur Verfügung, anderseits könne damit die Gefahr von missgebildeten Kindern reduziert werden. Denn es sei bekannt, dass Thalidomid gerade in Drittweltländern illegal für eine Vielzahl von Krankheiten (sogar gegen Haarausfall) eingesetzt werde.
In Brasilien leben laut Pannikar rund tausend «Contergan-Kinder», die erst in den neunziger Jahren geboren wurden. Möglicherweise, so wird vermutet, haben Analphabetinnen das Symbol der durchgestrichenen schwangeren Frau auf der Packung falsch gedeutet und Thalidomid als Abtreibungsmittel verwendet - dabei kann eine einzige Tablette genügen, um beim Ungeborenen Missbildungen hervorzurufen.
Bis heute kennt man den genauen Wirkungsmechanismus von Thalidomid nicht. Seit den neunziger Jahren weiss man aber, dass die Substanz über verschiedene Wachstumsfaktoren die Bildung von neuen Blutgefässen (Angiogenese) hemmt. Diese Eigenschaft dürfte auch zu den fötalen Missbildungen im Mutterleib führen - denn die sich bildenden Organe und Gewebe sind auf genügend Blutgefässe angewiesen. Bei Tumorkrankheiten hingegen, bei denen ebenfalls neue Blutgefässe gebildet werden, ist dieser Effekt erwünscht. Thalidomid greift auch in die Regulation des Immunsystems ein, indem es Gewebshormone wie den Tumor-Nekrose-Faktor und Interleukine hemmt. Dieses Spektrum an Wirkungen macht Thalidomid für eine Reihe von Entzündungs- und Immunkrankheiten interessant.
Vorangetrieben wird die Behandlung mit Thalidomid bei hoffnungslosen Krebskranken, bei denen alle Standardtherapien versagt haben und für die das Medikament einen letzten Rettungsanker darstellt. Ebenfalls eingesetzt wird Thalidomid bei schmerzhaften Geschwüren im Mund und Rachen, wie sie bei Aidskranken vorkommen. Unter der Leitung des amerikanischen National Cancer Institute werden zurzeit weltweit 39 Studien durchgeführt, um den Nutzen des Medikaments - alleine oder in Kombination mit anderen Therapien - bei fortgeschrittenen Krebsleiden fast sämtlicher Organe zu untersuchen. Vielversprechende Indikationen sind der fortgeschrittene Prostatakrebs und das Melanom.
Am meisten Erfahrungen mit Thalidomid hat man aber bisher beim Multiplen Myelom, einem bösartigen und bisher nicht heilbaren Tumor des Knochenmarks, der ein Prozent aller Krebsfälle ausmacht. In der Schweiz erkranken daran jedes Jahr 400 meist ältere Personen. Dabei wuchern sogenannte Plasmazellen, die an verschiedenen Stellen des Skeletts den Knochen zerstören und die normale Blutbildung verdrängen.
Den Nutzen von Thalidomid bei diesem Krebs zeigte erstmals eine im November 1999 publizierte Arbeit aus dem Arkansas Cancer Research Center.4 84 Patienten, deren Myelom-Krankheit trotz Chemotherapie und Stammzelltransplantation voranschritt, wurden mit Thalidomid-Tabletten in zunehmender Dosis behandelt. Bei rund einem Drittel sprach der Tumor auf die Therapie an, bei über zehn Prozent kam es sogar vorübergehend zu einer kompletten oder fast kompletten Remission - was bedeutet, dass praktisch keine Krankheitszeichen mehr feststellbar waren. Ansprechraten um die dreissig Prozent beobachtet auch Roger von Moos, Leiter der klinischen Forschungsabteilung Onkologie/Hämatologie am Kantonsspital St. Gallen, bei seinen meist stark vorbehandelten Myelom-Patienten. In Kombination mit Cortison-Präparaten seien noch bessere Resultate möglich; ebenfalls, wenn die Therapie im frühen Krankheitsverlauf eingesetzt werde.
Bei Patienten, bei denen man mit andern Therapien nichts mehr erreichen könne, sei das ein guter Erfolg, erklärt von Moos. Er räumt allerdings ein, dass man noch nicht wisse, ob das durch Thalidomid erreichte Zurückdrängen des Tumors auch mit einem längeren Überleben einhergehe - was allerdings auch bei den Standard- Chemotherapien ohne Stammzelltransplantation fraglich sei oder bekannterweise nicht zuträfe. Unbestritten beim Thalidomid ist: Gelingt es, die Tumormasse zu reduzieren, dann haben die Patienten oft weniger Symptome wie Fieber, Nachtschweiss, Müdigkeit oder Appetitlosigkeit; zudem können beim geschwächten Knochen Frakturen verhindert werden. Insgesamt sei man sich heute in Fachkreisen einig, betont von Moos, dass Thalidomid bei der Myelom-Therapie einen klaren Stellenwert habe.
Für diese Indikation ist die Substanz allerdings erst seit kurzem in Australien zugelassen. Doch mit einer Spezialbewilligung des Schweizerischen Heilmittelinstituts Swissmedic können Ärzte auch hierzulande unheilbar Kranke - auch ausserhalb von Studien - mit Thalidomid behandeln. Ohne behördliche Zulassung muss das Medikament, das in der Schweiz durch die Firma Lipomed in Arlesheim vertrieben wird, von den Krankenkassen aber nicht bezahlt werden. Inzwischen werden bereits synthetische Thalidomid-Analoga sowie weitere Angiogenese-Hemmer klinisch erprobt. Von diesen Substanzen erhofft man sich eine stärkere Wirksamkeit ohne die Gefahr von Missbildungen. Es ist also möglich, dass Thalidomid in einigen Jahren obsolet sein wird.
Literatur:
NZZ vom 05. November 2003 - © Neue Zürcher Zeitung AG
URL: http://www.k-faktor.com/thalidomide/artikel1.htm | Last Update: 18.03.2005
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